Arndt, Richard: Mit fünfzehn Jahren an die Front
Als kriegsfreiwilliger Jäger quer durch Frankreich, die Karpaten und Italien 1914- 1918
Als kriegsfreiwilliger Jäger quer durch Frankreich, die Karpaten und Italien 1914- 1918
Neu bearbeitet von Ingo Möbius
Im Sommer 1914 gingen in Europa die Lichter aus. Es begann ein Krieg, den man später den Ersten Weltkrieg nannte. Im größten Teil Europas griff man begeistert zu den Waffen, in der Meinung, der Kampf würde schnell siegreich ein Ende finden. Auch im Deutschen Kaiserreich meldeten sich unzählige junge Kriegsfreiwillige.
Einer von diesen jungen Kriegsfreiwilligen war Richard Arndt. Zum Zeitpunkt des Kriegsausbruchs gerade 15 Jahre alt geworden, war er im Sommer 1914 auf deutscher Seite vielleicht der jüngste Kriegsfreiwillige überhaupt, der bei der Truppe angenommen und ins Feld geschickt wurde. Nach kurzer Ausbildung wurde er dem Reserve-Jägerbataillon 5 zugeteilt.
Arndt erlebte im Herbst 1914 an der Westfront den Beginn des Stellungskrieges. Nachdem er im Juni 1915 schwer verwundet worden war, meldete er sich zu Beginn des Jahres 1916 erneut freiwillig an die Front. Er erlebte mit seinem Bataillon die Schlacht bei Verdun, ab Sommer 1916 den Hochgebirgskrieg in den Karpaten und im Herbst 1917 die deutsch-österreichische Offensive gegen Italien. Im Frühjahr 1918 an die Westfront zurückgekehrt, durchstand er die schweren Abwehrkämpfe bis zum Waffenstillstand.
Als Arndt nach vier Jahren Krieg, ausgezeichnet mit beiden Klassen des Eisernen Kreuzes und der österreichischen Tapferkeitsmedaille, nach Hause zurückkehrte, war er 19 Jahre alt. In den Schlachten des Weltkrieges war jede Kriegsbegeisterung erloschen. Das Reserve-Jägerbataillon 5 war auf eine Handvoll Soldaten zusammengeschrumpft. In diesem Buch blickt der junge Kriegsfreiwillige auf seine Erlebnisse zurück.
2. überarbeitete Auflage
305 Seiten, 38 bisher unveröffentlichte Fotos und Abbildungen, gebunden
Leseprobe
„ ...
Am 21. August 1918 war unsere Ruhe vorüber. Wir
wurden verladen und fuhren von Sedan nach Süden, der Lause-Champagne entgegen,
wo wir am 22. August eintrafen und in Semide ausgeladen wurden. Am Abend ging
der Marsch auf einer geraden Straße genau nach Süden. Zum ersten Mal sahen wir
hier in Frankreich statt der ewigen Laubwälder wieder Nadelwald. Die Gegend
ähnelte bald unserer märkischen Heimat. Nach längerem Marsch kamen wir durch
das vollständig zerstörte Somme-Py. Geisterhaft standen die wenigen Ruinen in
dem hellen Mondschein.
In der HWL, der Hauptwiderstandslinie, lösten
wir das Infanterieregiment 94 ab. Die 2. und die 3. Kompanie kamen nach vorn in
Stellung, unsere 1. Kompanie jedoch blieb hier in Bereitschaft liegen. In dem
Graben hatten wir bequem Platz. Von diesem aus gingen zwei unheimlich tiefe
Treppen nach dem Stollen hinunter. Von dem Stollengang, der die beiden Ausgänge
verband, gingen kleine Kabinen ab, in denen mit Maschendraht überzogene
Pritschen zum Schlafen aufgestellt waren. Dem Granatfeuer boten diese Stollen
durch ihre gewaltige Erddeckung einen guten Schutz. Doch hatten sie auch ihre
Nachteile. Die Art des Angriffes hatte sich im Verlauf des Krieges gewaltig
geändert. Da das Trommelfeuer bei Beginn des Infanterieangriffes nicht mehr
verstummte, sondern die Angreifer dicht hinter der langsam vorgehenden
Feuerwalze folgten, merkte man den Angriff oft zu spät. Ehe man sich versah,
rollten die Handgranaten die Stolleneingänge hinunter, die Leiber der unten
Wartenden mit ihren gewaltigen Explosionen zerfleischend und alles Leben durch
die giftigen Gase vernichtend.
Nachdem ich einen Grabenposten ausgestellt
hatte, legte ich mich bald zur Ruhe. Ich war gerade im Einschlafen, als
plötzlich ein schwerer Gegenstand auf mich niederplumpste und quietschte.
Erschrocken fuhr ich hoch und sah direkt auf meiner Brust eine riesenhafte
Ratte sitzen, die fast so groß wie ein Kaninchen war. Von meiner heftigen
Bewegung aufgescheucht, sprang die Ratte auf den Boden. Mir war der Schlaf
vergangen. Ich nahm meinen Mantel und die Zeltbahn, kletterte nach oben und
legte mich, da die Nacht hell und warm war, hinter dem Graben auf das freie
Feld. Bald war ich fest eingeschlafen.
Mit einem Mal wachte ich auf. An meinem linken
Fuß nagte und knabberte etwas. Wie ich meinen Kopf hochhob, sah ich auf meinen
Beinen wieder eine dicke, fette Ratte sitzen, die quietschvergnügt an meinem
Schuh nagte. Jetzt wurde mir die Sache zu bunt, denn Ratten sind mir etwas
Widerliches, zumal noch solche Riesentiere. Hier schienen ja nette Zustände zu
herrschen! Ich setzte mich im Graben neben den Posten, der, mit Steinen
bewaffnet, auf die Ratten aufpaßte und somit meinen Schlaf bewachte.
Als es hell wurde, sahen wir uns unsere
Umgebung näher an. Die ganze Gegend war durch Schützengräben, Granattrichter
und ungeheure Sprengtrichter total zerrissen und zerfetzt. Die Erde war
schneeweiß von dem Kreideboden. Gerade hier in dieser Gegend hatten die großen
Champagne-Schlachten gewütet. Als wir bei diesigem Wetter ein Stück vorgingen,
kamen wir in die ehemalige erste Linie. Geradezu grauenhaft war hier das Bild
der Verwüstung. Die Beton-Unterstände waren zerschossen. die Stollen
eingedrückt, der Schützengraben fast eingeebnet. Vor dem Drahtverhau fanden wir
Hunderte von Skeletten, die Knochen von der Sonne und dem Regen schneeweiß
gebleicht. An dem verwitterten Lederzeug konnten wir erkennen, daß es Franzosen
waren, die von unseren Kugeln erfaßt worden waren. In einem Granattrichter
lagen sechs Skelette dicht nebeneinander. Jedenfalls hatten sie dort Schutz
gesucht und dabei den Tod gefunden. Verwaschene Briefe und Photographien lagen
umher. Jetzt konnten wir uns auch erklären, woher die unheimliche Masse dieser
riesengroßen Ratten kam. Diese hatten hier an den Tausenden von Leichen eine
reichliche Nahrung gefunden. Wieviel Hunderte, ja Tausende Kameraden mochten
hier noch in den Stollen und Unterständen verschüttet liegen!
Der erste Tag verlief verhältnismäßig ruhig,
doch am nächsten Tag wurde es bedeutend ungemütlicher. Der Feind beschoß
unseren Graben mit schweren Granaten mit Verzögerungszündern. Diese bohrten
sich erst tief in die Erde ein, bevor sie krepierten. Der ganze Druck der
Explosion ging hauptsächlich nach unten. Aus diesem Grunde wurden sie „Stollenbrecher“
von uns genannt, weil sie den tief unter der Erde liegenden Stollen äußerst
gefährlich wurden.
Bei Beginn des Feuers flüchteten wir
schleunigst in unsere Stollen. Um uns die Zeit zu verkürzen, spielten wir im
Stollengang auf übereinandergelegten Dächsen gemütlich einen Skat. Mit einem
Mal über uns eine gewaltige dumpfe Explosion. Der ganze Stollen schaukelte.
Mehrere Stollenhölzer knickten zusammen. Wir wurden mit einer Dreckwolke
überschüttet. Das Licht verlöschte. Donnerwetter, wie leicht konnte das ins
Auge gehen! Ein „Stollenbrecher“ mußte direkt über unserem Gang explodiert
sein. Da keiner von uns verletzt war, zündeten wir das Licht wieder an und
spielten unseren Skat weiter.
Der Feind sollte hier in der Champagne mit den
furchtbarsten Gasgranaten schießen, die je im Kriege vorgekommen waren, den
sogenannten Gelbkreuzgranaten. Es wurde uns gesagt, daß deren Gas gänzlich
unsichtbar war, aber in Granattrichtern und Unterständen noch wochenlang seine
Wirkung behielt. Ein Tropfen der bei der Explosion umherspritzenden Flüssigkeit
genügte, um sofort das Fleisch von den Knochen zu brennen. Zum Schutz dagegen
erhielt jeder eine kleine Büchse mit Chlorkalk, die wir stets bei uns tragen
mußten. Auch wir erhielten eine neue Waffe, das Tank-Abwehrgeschütz. Es ähnelte
dem Infanteriegewehr, nur daß es doppelt bis dreifach so groß war. Die Patronen
waren fast so groß wie Geschosse von Revolverkanonen.
Am 1. September 1918 lösten wir das in
vorderster Linie liegende Reserve-Jägerbataillon 6 ab. Bisher war es vorn
verhältnismäßig ruhig gewesen, als wir jedoch dort ankamen, ging die Schießerei
los. Ein furchtbares Trommelfeuer größter Kaliber fegte auf die Stellung
nieder. Vom Schützengraben war nichts zu sehen. Wir lagen fast ausschließlich
in Granattrichtern. Am nächsten Tag ging es jedoch erst richtig los. Mindestens
hundert Geschützrohre spieen Gasgranaten auf uns. Wir waren in solch
undurchsichtige Gaswolken eingehüllt, wie wir es bisher im Krieg noch nie
erlebt hatten. Krachend schlugen dicht hinter uns die furchtbaren
Gelbkreuzgranaten ein, durch die wir starke Verluste hatten. Die Verbrennungen
durch diese Granaten waren geradezu grauenhaft. Es war ein Glück für uns, daß
wir die Chlorkalkbüchsen bei uns hatten und vor allen, daß unsere deutschen
Gasmasken einen solch wunderbaren Schutz gegen diese ungeheuren Gaswolken
boten. Mit viel Mühe versuchten wir in dem harten Kreideboden einen Graben
auszuheben, doch der jetzt täglich niederströmende, wolkenbruchartige Regen
machte unsere Mühe zuschanden. In den Trichtern sammelte sich eine dicke,
milchige Flüssigkeit.
So lagen wir hier bis zum 11. September 1918,
an dem wir in das Ruhelager an der Straße Somme-Py - Semide zurückmarschierten.
Ungeheure Fliegergeschwader jedoch sorgten dafür, daß wir nicht zur Ruhe kamen.
Fahrplanmäßig erschienen sie über den Barackenlagern und warfen ihre Bomben ab.
Sorgten schon die Flieger dafür, daß wir fast keinen Schlaf mehr fanden, so
brachten uns die fortgesetzten Alarmierungen um jede Ruhe.
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