Hartung, Wilhelm: Großkampf, Männer und Granaten
Die Erinnerungen eines Artillerieoffiziers im Ersten Weltkrieg 1914 - 1918
Die Erinnerungen eines Artillerieoffiziers im Ersten Weltkrieg 1914 - 1918
Neu bearbeitet von Ingo Möbius
Im Spätsommer des Jahres 1914 trafen nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges an der sich bildenden Westfront zwei technisch hoch gerüstete Millionenheere aufeinander. Nach für beide Seiten sehr verlustreichen Schlachten erstarrte der Bewegungskrieg und es kam zu einem jahrelangen Stellungskrieg von zuvor nicht gekannten Ausmaßen. Eine Waffengattung bestimmte von nun an den weiteren Verlauf der Kämpfe ganz besonders, die Artillerie. Kein Angriff auf eine gegnerische Stellung war möglich ohne intensiven vorherigen Artilleriebeschuß, gleichzeitig ließ der Verteidiger eben diesen Angriff in seinem eigenen Feuer zusammenbrechen. In den immer größer werdenden Materialschlachten ging der einzelne Soldat sprichwörtlich unter.
Einer von ihnen war Wilhelm Hartung. Bis zum Ausbruch des Krieges war er vorher nie Soldat gewesen, und auch seine Meldung als Kriegsfreiwilliger benötigte mehrere Anläufe, ehe er in einem Artillerieregiment aufgenommen wurde. Nach der militärischen Grundausbildung kam er zum Jahreswechsel 1914/15 nach Flandern an die Westfront, wo er zunächst in einer Meßstelle Verwendung fand. Mit der Beförderung zum Gefreiten erfolgte im Juni 1915 die Versetzung in eine Kampfbatterie, schnell erhielt er die weiteren Beförderungen zum Unteroffizier und zum Vizefeldwebel. Als solcher erlebte er im Sommer 1915 seine ersten Einsätze als Artillerie-Beobachter. Die Herbstschlacht bei Arras im September 1915 wurde sein erster Großkampf und Hartung fand Verwendung als Vorgeschobener Beobachter bei der Infanterie.
Zum Leutnant d.R. befördert und weiterhin in der Verwendung des Artillerie-Beobachters erlebte Hartung die Schlacht vor Verdun bis zu einer schweren Verwundung im Frühjahr 1916. Nach seiner Genesung erhielt er die Versetzung zu einer 15-cm-Haubitzbatterie. Die Schlacht an der Somme erlebte er als Batterieoffizier und wiederum als Beobachter. Es folgte als eigenständiger Zugführer im Winter 1916/17 der Einsatz an der Vogesen-Front und im Frühjahr 1917 in der Doppelschlacht an der Aisne und in der Champagne. Im Juli 1917 zum Führer seiner Batterie ernannt, durchstand Hartung die monatelangen schweren Kämpfe am Chemin-des-Dames zusätzlich weiterhin als Beobachter in vorderster Linie und später auch als Artillerie-Verbindungsoffizier. Hartung kämpfte mit seiner Batterie in der gewaltigen Dritten Flandernschlacht und unterstützte im Frühjahr 1918 in der deutschen Flandernoffensive die Erstürmung des Kemmel-Berges. Nach einer erneuten schweren Verwundung erlebte er das Ende des Krieges in einer Stabsverwendung.
Wilhelm Hartung erzählt in seinen detaillierten Erinnerungen von den Erlebnissen des einfachen Frontsoldaten. Er schildert offen und ehrlich die Schrecken der großen Materialschlachten, in denen er sich beide Klassen des Eisernen Kreuzes erwarb. Er schildert eindringlich das Grauen des Gaskrieges, das Gemetzel in den Schützengräben, wie auch das geräuschlose Sterben des unbekannten Soldaten. Die Erinnerungen dieses Artillerieoffiziers nehmen den Leser mit hinaus in die Großkämpfe an der Westfront des Ersten Weltkrieges, in denen der Tod ein ständiger Begleiter war.
533 Seiten, 75 bisher unveröffentlichte Fotos und Abbildungen, Hardcover, gebunden
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Etwa vom 10. März 1916 an sahen wir von unserer Beobachtung, wie unsere Batteriestellung in der Woevre von fürchterlichem Feuer überschüttet wurde, dann brach jede Verbindung ab. Alle drei Telefonleitungen zur Beobachtung waren tagelang unbrauchbar. Bald kam die Meldung, daß ein großer Teil der Batterie gefallen sei und der Rest sich in dem Feuerstrudel nicht mehr bei den Geschützen halten könne. Ich empfing den Befehl, das Kommando über die Kampfbatterie zu übernehmen.
Am Nachmittag pirschte ich mich durch das Feuer zur Batterie hinab. Der Anfang war schlecht, denn ich geriet in Gasbeschuß, dem meine Gasmaske nicht standhielt. Wir hatten noch 1915 neue Gasmasken bekommen, die die ganze Vorderseite des Kopfes abschlossen und vorn einen Einsatz trugen, der die Luft filtrierte. Es war das Maskenmodell, das jahrelang dasselbe blieb, nur hin und wieder mit besser konstruierten Einsätzen neu ausgestattet. Wie Schweinsrüssel hingen die Masken vor dem Gesicht. Die großen Augenfenster gaben ihnen etwas Dämonisches. Ich lag eine Stunde lang kotzend in der Landschaft, raffte mich dann aber wieder auf.
Die Batterie war in einem Obstgarten am Rand einer zerschossenen Ortschaft (Maucourt) eingebaut. Rechts der Batterie führte die von der Höhe 307 kommende Straße vorbei, die sich dicht vor der Batterie im Dorf nochmal gabelte. Außer dem Geschoßhagel, der der Batterie selbst galt, fiel noch ein guter Teil von dem Feuerwerk für sie ab, mit dem die Straßen überbraust wurden. Alte französische Drahtverhaue führten hier durch, wie überhaupt der Ortsrand ehedem als französische Reservestellung stark befestigt war. Noch von Beobachtung aus hatte ich in den ersten Angriffstagen gesehen, wie große Minenfelder, die den Ortsrand schützten, von dem ungeheuren Artilleriefeuer gefaßt wurden und in die Luft gingen.
In die Stellung konnte ich zunächst nicht vordringen, ein dichter Feuervorhang von feindlichen Granaten breitete sich darüber aus. Auf allen Vieren kroch ich schließlich in der Dunkelheit vor. Im Aufblitzen der einschmetternden Granaten enthüllte sich mir ein furchtbares Bild. In allen den scheußlichen Verrenkungen, die die Toten des Schlachtfeldes einnehmen, lagen meine Kameraden dort herum und glotzen mich mit ihren glasigen Augen, in denen sich die Blitze der Stichflammen brachen, in der gespensterhaft graugelben Farbe des Todes an. Geschütze und Munition waren wüst durcheinander gewirbelt, immer wieder fuhren neu einschlagende Granaten hernieder und zerfetzten das Chaos. Man hat ja so unzählige Tote im Krieg gesehen und sich an das wechselnde Aussehen des Todes gewöhnt, aber wenn man die eigenen Kameraden so wiederfand, mit denen man Freud und Leid geteilt hatte, dann warf es einen doch nieder.
Wo waren nun die überlebenden Kameraden geblieben? Sie konnten in dem mörderischen Feuer nicht weit entfernt sein. Ich spähte in der Nachbarschaft umher und fand sie in einem Zustand völliger Teilnahmslosigkeit jenseits der Straße in einem verlassenen französischen Unterstand. Ich merkte sofort, hier war mit Befehl nichts zu machen. Die Leute waren völlig erschöpft und seelisch durch die furchtbare Kampfarbeit und die schweren Verluste mitgenommen. Auf all meine Fragen sahen sie mich nur verständnislos an. Sie merkten nicht einmal, daß der Unterstand unter wütendem Feuer gehalten wurde, vor allem unter schwerem Gasbeschuß. Selbst zum Aufsetzen der Gasmasken waren sie nicht zu bewegen. Man mußte sie nun erst einmal wieder zu sich selbst kommen lassen. Ich pirschte mich deshalb zunächst über die Straße in die Batterie zurück, um die Beschädigung des Geschützmaterials zu prüfen.
Auf der Straße donnerten im Galopp Munitionswagen vorbei. Plötzlich auf kürzeste Entfernung ein ohrenzerreißender Einschlag mit nachfolgender, wüster Detonation. Ein Wagen hatte Volltreffer erhalten. Die Munition flog krachend hoch, und die Pferde bäumten sich aufwiehernd und wild zerrend in den Geschirren. Nach wenigen Augenblicken war der Kampf zu Ende. Die explodierende Munition gab ihnen allen den Rest. Ich hatte mich noch rechtzeitig in ein Loch geworfen und kroch nachher hin, aber es war nichts mehr zu retten. Fünf Tote zog ich in den Straßengraben. Über Pferde und durcheinandergeworfene Munition raste die tolle Jagd der nachfolgenden Munitionswagen weiter. Die Räder knirschten über die Pferdeleiber hinweg.
Gegen 2.00 Uhr machte ich allein ein Geschütz fertig, das ziemlich unverletzt geblieben war, und fing an zu feuern, wenn auch sehr langsam. Das wirkte auf die paar Leute, die immer noch im Unterstand hockten, mehr als ein Befehl. Zuerst kam ein Unteroffizier herbei, und schließlich hatte ich gegen Morgen wieder eine Bedienung zusammen. Am Vormittag gelang es auch, eine Telefonleitung zur Beobachtung auszubessern und den Beginn der Feuertätigkeit zu melden. So wurde die Zusammenarbeit zwischen Batterie und Beobachtung wieder in Gang gesetzt.
In der folgenden Nacht wurden neue Geschütze in Stellung gebracht, ebenso traf Mannschaftsersatz aus dem Lager ein. Sofort ließ ich mit dem Ausbau der Stellung beginnen. Es waren lediglich ein paar von den Franzosen geerbte Unterschlupfe aus Faschinengeflecht vorhanden, die etwas Erdbewurf gegen Splitter besaßen. Wir legten nun ein paar kleine, provisorische Unterstände an, die nur zum Unterkriechen gedacht waren. Auf diesen ließ ich das zermahlene Gestein aus den zerschossenen Häusern aufschütten. Die Reglements warnten vor der Verwendung dieses Materials, vor allem wegen der Steinsplitter. Ich habe aber im Krieg immer die besten Erfahrungen damit gemacht, da die Granaten durch den Steinschotter nicht hindurchgingen, außer bei ganz schwerer Munition. Das Geröll wirkte als Deckung gegen Granaten ähnlich wie Sand gegen Gewehrkugeln. Etwaige Steinsplitter spielten im Eisenregen der modernen Schlacht keine Rolle mehr. Die besten Unterstände im Krieg waren nach meinen Erfahrungen die tiefen französischen Keller, über die sich das Steinmaterial des ganzen Hauses als schützende Decke gelegt hatte. Die Gräben, die wir aushoben, liefen sofort voll Wasser.
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